Vorbilder

Letztens in den frühen Morgenstunden widerfuhr mir etwas, das ich meist einmal im Jahr erlebe: Ich habe einen sehr intensiven Traum, in welchem ich anfange zu weinen. Ein Weinen, das sich in eine solche Intensität steigert, dass ich davon aufwache. Dieses Aufwachen zieht sich oft etwas hin, da ich zuerst wie in einem Zwischenstadium verweile, welches ich gar nicht wirklich dem Träumen oder dem Wachsein zuordnen könnte. Nachdem ich dann langsam realisiert habe, den Zustand des Wachseins erreicht zu haben, steigere ich mich noch weiter in das Gefühl des Traumes hinein, weshalb es mir erst einmal recht schwerfällt, mich wieder zu beruhigen. Der Traum löst bei mir solch starke Reaktionen aus, dass ich erstmal nichts anderes tun kann, außer zu weinen.

Die Träume handeln meistens vom Tod einer mir nahestehenden Person oder meines eigenen, wodurch ich quasi zum Abschied nehmen gezwungen werde. Seitdem ich mich erinnern kann, ist der Abschied für mich schwierig gewesen, selbst wenn es nur ein Adieu für ein paar Stunden bedeutete. Die Angst, diese mir wichtige Person könnte nie wieder zurückkommen, hat mich schon immer begleitet. In meinem diesmaligen Traum ging es wieder um Abschied, aber in einer anderen Form. Ich habe zwei wundervolle Menschen wiedergesehen, die leider nicht mehr auf dieser Welt weilen. Sie waren ein Ehepaar, die ich nur als ältere Personen kennenlernen durfte und die eine Rolle als Ersatzgroßeltern für mich eingenommen haben. Sie wohnten uns schräg gegenüber in einem – für mich als Vierjährige – enorm großen Haus mit einem unglaublich schön gepflegten Garten. Die Terrasse lag etwas erhöht, weshalb ein kleiner – für mich als Kind riesiger – mit Gras bewachsener Hang hinunterführte. Ich erinnere mich noch, wie wir stundenlang diesen Hang hinuntergerollt sind. Wieder und wieder, ohne Ende. Unbeschwerte Momente, in denen ich einfach nur Kind sein durfte.

Die Zeit bei und mit ihnen hatte für mich immer etwas Magisches. Wie eine andere Welt, in die ich eintauchen und mich, wie Alice auf Entdeckungsreise im Wunderland fühlen konnte. Für mich als kleines Mädchen waren diese beiden lieben Menschen Vorbilder. Vorbilder für eine funktionierende Ehe, für einen liebevollen Umgang mit anderen und für Respekt. In meiner Erinnerung habe ich bei ihnen immer diese Einheit gespürt, die ich mir seitdem auch für meine Beziehungen wünschte. Dieses Gefühl, dass, was auch immer kommen mag, sie alles zusammen durchstehen. Komme, was wolle.

Als vor kurzem meine Oma gestorben ist, kam mir die Frage in den Kopf, wie viel kindliche Vorstellungskraft in meiner Erinnerung an sie oder auch an diese beiden steckt. In der eigenen Familie stecken oft viel Leid und Verletzungen, sodass man sowieso noch einmal mit anderen Augen drauf schaut. Wie ist das aber hier? Wie waren sie wohl zu ihren eigenen Enkelkindern? Diese könnte ich zwar fragen, aber möchte ich die Antwort wirklich wissen? In diesem Moment merke ich, dass mein Kopf denkt, er müsste Dinge hinterfragen, die durch ein Gefühl begründet sind. Als Erwachsene blicke ich mit anderen Augen auf meine Vergangenheit und so erstrahlen auch damalige Vorbilder in einem anderen Licht. Ob dies nun sinnvoll ist, bleibt für mich an dieser Stelle dahingestellt, da es wohl der Prozess des Erwachsenwerdens ist, meine verklärten, kindlichen Vorstellungen unter anderen Gesichtspunkten zu betrachten.

Wie mit allem liegt es nun an mir, zu entscheiden, wie ich meine Erinnerung behandeln möchte. Der Traum hat mir wieder dieses Gefühl der bedingungslosen Akzeptanz gegeben, die ich immer von diesen beiden bekommen habe. Eine Akzeptanz von mir als der Mensch, den sie damals gesehen haben. Eine Akzeptanz, die vielleicht nur durch die gewisse Distanz einer mir nicht verwandten Person möglich war. Diese Distanz, die auch mich diesen kindlichen Blick bewahren lässt. Ein Blick, der vielleicht nicht das Ganze erfassen konnte, mich jedoch solch starke Gefühle der Freude und Zugehörigkeit gelehrt hat, dass ich meinem Kopf beruhigt sagen kann: Hör auf dein Gefühl!